Mutationen in einem neu identifizierten Krankheitsgen namens VWA1 erklären erstmalig das häufige Fallen und späte Gehenlernen bei einigen Kleinkindern. Betroffenen fehlte bislang eine Diagnose. An der Genmutation erkrankt ist auch eine Patientin, deren Daten aus dem Kindesalter in einer vor 30 Jahren vom Medizininformatiker Dr. Radu Wirth programmierten Datenbank erfasst worden waren. Die Humangenetikerin Univ.-Prof. Dr. Brunhilde Wirth, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, klärte jetzt mit ihrem Team nach 21 Jahren diesen bislang ungelösten Fall auf und enträtselte die genetische Ursache der Erkrankung. Die medizinische „Detektivgeschichte“, die das Forscherehepaar damit löste, wurde jetzt in der Fachzeitschrift „Brain“ veröffentlicht.
Prof. Henry Houldon vom University College London und eine Gruppe internationaler Forscherinnen und Forscher haben Mutationen im VWA1 Gen bei Patienten mit einem milden Verlauf einem der spinalen Muskelatrophie (SMA) ähnlichen Krankheitsbild aufgedeckt. Fortschreitende Techniken der Genomsequenzierung und neue Auswertungsprogramme ermöglichen die Entdeckung einer Veränderung, die in einer sehr schwer sequenzierbaren Region des Genoms liegt und bei 1:500 bis 1:1000 Europäern vorkommt. Die Krankheit wird autosomal rezessiv vererbt, das heißt, es müssen auf beiden elterlichen VWA1-Genen Mutationen vorliegen, damit sich die neuromuskuläre Erkrankung entwickelt. Diese Mutation zerstört die Funktion des Proteins, welches eine wichtige Rolle in der extrazellulären Matrix, dem Bereich zwischen den Zellen, spielt. Die vorläufigen Ergebnisse wurden von Dr. Alistair Pagnamenta von der University of Oxford auf der virtuellen Europäischen Tagung für Humangenetik im Juni 2020 vorgestellt.
Prof. Wirth (Institut für Humangenetik, Zentrum für Molekulare Medizin Köln und Zentrum für Seltene Erkrankungen Köln) kontaktiert die englische Gruppe, da in Köln ein „Schatz“ ungelöster SMA-Fälle vorliegt. Dr. Radu Wirth programmierte eine schnelle Abfrage der Datenbank und deckte circa 2.000 ungelöster SMA-Fälle auf. Die Postdoktorandin Marlen Lauffer und die Masterstudentin Isabell Brusius aus der Arbeitsgruppe von Prof. Wirth haben in nur wenigen Wochen das VWA1-Gen in über 1.000 Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf SMA auf Mutationen sequenziert.
Nach nur wenigen Tagen wurde die erste Patientin mit eben diesem Defekt – einer 10 Basenpaar-Insertion und einer zweiten Mutation in einem anderen VWA1-Genabschnitt – gefunden. Die Blutprobe der Patientin wurde vor 21 Jahren an Prof. Wirth am Institut für Humangenetik in Bonn geschickt, als sie dort habilitierte. Während sie nach ihrer Rufannahme alle Proben der Patienten mit Verdacht auf SMA nach Köln transferieren durfte, blieben die Akten in Bonn. Das machte es schwierig, die Identität der Patientin zu klären. Ein Anruf in Bonn blieb ohne Erfolg. Doch in der Datenbank war noch der Einsender der Blutprobe vermerkt: Eine Anfrage bei der Kinderärztin lief jedoch ebenfalls ins Leere.
Daraufhin suchte Prof. Wirth Namen und Wohnort der Patientin im Internet, in der Hoffnung, einen Telefoneintrag zu finden – wieder ohne Erfolg. Aber sie fand überraschend eine Meldung, in der über einen Unfall einer jungen Frau berichtet wurde, die ein Gliedmaß verloren hatte und nun im Rahmen eines Kurses Jugendliche für die tragischen Folgen eines Autounfalls sensibilisierte. Name, Geburtsdatum und Region der beschriebenen Patientin passten zu der Betroffenen mit den VWA1-Mutationen. Ein Anruf in der dortigen Unfallchirurgie ergab, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die gesuchte Patientin handelte, aber kein Zugang zur elektronischen Akte mehr vorhanden war. Daraufhin bat die Humangenetikerin um die Kontaktaufnahme mit einem verantwortlichen Oberarzt, den sie per E-Mail über ihre Nachforschungen im Dienste der Wissenschaft informierte. Wenige Minuten später schrieb der Arzt, er kenne die Patientin und würde gleich Kontakt mit der Familie aufnehmen. Zehn Minuten später meldete sich die Familie telefonisch bei Prof. Wirth. Die Freude war riesig, dass nach über 20 Jahren die Ursache für die Erkrankung endlich aufgedeckt werden konnte.
Die betroffene Frau, die mittlerweile als Physiotherapeutin arbeitet, stellte den Forschenden ihre sorgfältig aufbewahrten Krankenakten zu Verfügung. Sie waren von hohem Nutzen: Eine detaillierte Darstellung des Krankenverlaufs wurde der aktuellen Publikation in „Brain“ hinzugefügt.
Nach weiteren drei Tagen kam die Patientin persönlich ins Zentrum für Seltene Erkrankungen an der Uniklinik Köln. Das Zentrum vereint in seinen Subzentren Diagnostik, Therapie und Forschung seltener Erkrankungen. Es vereint interdisziplinäre Zusammenarbeit und die enge Verbindung von Patientenversorgung und Forschung. Die Patientin wurde ausgiebig von Dr. Mert Karakaya (Humangenetik, Uniklinik Köln) humangenetisch beraten und neurologisch von Dr. Gilbert Wunderlich (Neurologie, Uniklinik Köln) untersucht. Nach mehr als 20 Jahren kann jetzt endlich eine gezielte Therapie ansetzen. Zudem wurden Videos und Bilder angefertigt und der Publikation beigefügt.
Prof. Dr. Brunhilde Wirth sagt: „Dieser Fall zeigt, dass es bei seltenen Erkrankungen äußerst wichtig ist, weder Krankenakten noch DNA-Proben zu vernichten.“ Auch die Bioinformatik spiele eine große Rolle: Eine Datenbank ermögliche eine schnelle Auswahl der DNA-Proben, die für eine wissenschaftliche Fragestellung geeignet sind. „Nur so erhalten Patienten die Chance auf Aufklärung ihrer Erkrankung für sich und ihre Angehörigen, und das auch rückwirkend nach vielen Jahren. Erst nach dieser Diagnose kann im optimalen Fall eine gezielte Therapie ansetzen“, fügt sie hinzu. Ihr Appell an Betroffene: Eine Einverständniserklärung zur langfristigen Aufbewahrung der Proben und Daten sowie eine Beteiligung an wissenschaftlichen Fragestellungen, um Fortschritt in der Forschung und gezielte Therapien zu ermöglichen.